Geist und Materie – Zur Ausstellung
Beobachtete Teilchen verhalten sich anders

Beim dutzendfachen Zusammensetzen und Kleben der im zweidimensionalen zusammenhängend ausgebreiteten Papierflächen zu einem dreidimensionalen platonischen Körper habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass sich im Ergebnis eine Stabilität und Belastbarkeit ergeben, die dem puren Material des Bristol-Kartons sonst nicht eigen ist. Im günstigsten und gelungenen Fall, auch von meiner Gestimmtheit abhängig, finden die Klebelaschen wie von selbst ihren Weg und die zwölf Flächen eines Dodekaeders saugen sich regelrecht zusammen zu einem festen Materiekörper, der im inneren aber nur aus leerem Raum besteht. Was passiert hier? Das Material hat sich nicht verändert, nur seine Anordnung.
Ikosaeder, Dodekaeder, Oktaeder, Hexaeder und Tetraeder sind die Namen der fünf platonischen Körper. Im jeweiligen Namen steckt die Anzahl der Flächen, aus denen sich der jeweilige Körper zusammensetzt. Dodekaeder: 12 Fünfecke, Ikosaeder: 20 Dreiecke, Oktaeder: 8 Dreiecke, Hexaeder: 6 Quadrate (jedem als Würfel bekannt), Tetraeder: 4 Dreiecke. Es sind die einzigen fünf Möglichkeiten, wie sich aus gleichen Flächen mit gleicher Seitenlänge ein geschlossener Körper ergibt, der noch dazu in eine Kugel passt. Es gibt viele Beispiele in der Natur, wie sich organische und anorganische Strukturen auf diese Weise formieren, wie z.B. in der Eiweißhülle von Viren oder Kristallen.
Beim Zusammensetzen eines Clusters aus regelmäßigen Dodekaedern, wie in der hier stehenden Skulptur, bleibt immer ein kleiner Raumspalt übrig und dadurch lässt sich keine „dicht an dicht“ Schichtung, wie z.B. mit Würfeln herstellen. Wenn man nun aber den Dodekaeder so in seiner Geometrie modifiziert, dass er sich lückenlos schichten lässt, so erhält man eine extrem feste Zusammensetzung: die Diamantstruktur.

Alle platonischen Körper lassen sich geometrisch aus einem Raster aus gleichseitigen Dreiecken erschliessen. Die „Blume des Lebens“, ein Muster, das entsteht indem man einen Kreis setzt, den Mittelpunkt eines weiteren Kreises auf die Kreislinie des ersten Kreises legt, und dann immer so weiter an den Schnittpunkten – dieses blumenartige Muster ergibt auch ein Dreiecksraster. Eine sechszählige Symmetrie, aus der sich auch die Wabenform ergibt oder welche die Anordnungen von Zellteilungen beschreibt. In der „Metatrons Würfel“ genannten Struktur, die es sowohl zwei- wie dreidimensional gibt, und die auf der „Blume des Lebens“ beruht, liegen alle fünf platonischen Körper ineinander bzw. übereinander. Auch das Hexagramm oder der Davidstern ist darin zu finden. Metatron ist ein Engel aus der jüdischen Mythologie, der den göttlichen Plan in die dreidimensionale Welt gebracht haben soll.
Die Blume-des-Lebens-Struktur oder das Dreiecksraster liegt in den hier zu sehenden Malereien. Mit den Bildern versuche ich eine Durchdringung der geometrischen Strukturen mit den Formen der sichtbaren gegenständlichen Welt anzustreben. Es ergeben sich Hybride aus einem poetischen Vergrößern und Sichtbarmachen der Welt der kleinsten Teilchen mit dem makroskopischen Alltagsraum der Küche.
Die Holzarbeiten bestehen größtenteils nur aus Dreiecken und sind aus dem Plan hervorgegangen Bildgründe herzustellen, die das Raster schon materiell eingeschrieben haben.
Wie ist die Welt zusammengesetzt? Dem versuche ich mit Intuition, bestehend aus subjektiv- künstlerischem Vorgehen und objektivierendem Wissen, nachzuspüren. Das Raster aus gleichseitigen Dreiecken ist dabei momentan ein wesentlicher Teil meiner Versuchsanordnung.
Dem ging eine Phase voraus, in der ich mit einem Quadratraster und einer Ellipsenschablone die gegenständlichen Formen malerisch durchwirkt habe. Das Muster ähnelt der Blume des Lebens. Die Ähnlichkeit ist aber irreführend, weil die zugrundeliegende Anordnung fundamental anders ist. Es war ein Rückgriff auf eine noch viel frühere Phase meiner Arbeit, in der Muster und Ornamente schon mal eine große Rolle spielten. Dazwischen befasste ich mich jahrelang mit Licht und Schatten in den eigenen Wohnräumen. Dabei ging es zuletzt auch immer wieder um die Zusammensetzung der besagten Wirklichkeit. Was sich u.a. darin zeigte, dass die Gewebestruktur des Bildgrundes sichtbar bleiben musste, es gab nur eine sehr dünne, fast immaterielle Farbschicht. Die jüngste Entscheidung mit dem Dreiecksraster zu arbeiten ist der Fülle an Möglichkeiten, die sich damit ergeben geschuldet.

Beobachtete Teilchen verhalten sich anders, so der Titel meiner Ausstellung. Diese Aussage beruht unter anderem auf einem über hundert Jahre alten physikalischen Experiment: Einzelne Photonen, also Lichtteilchen, wurden durch einen Doppelspalt ( zwei waagrechte Spalten in einer Materieplatte) geschickt und treffen auf eine Fotoplatte, auf der nach und nach ein Interferenzmuster entsteht. Die Entstehung des Interferenzmusters – eine Überlagerung von Wellenzügen, war schon bekannt und deutete auf eine Wellenstruktur der Photonen hin. Dann wollte man wissen, durch genau welchen der beiden Spalten das einzelne Photon fliegt und brachte dafür einen Detektor an, der messen sollte durch welchen Spalt wieviele Photonen reisen. Das Ergebnis auf der Fotoplatte war vollkommen anders: Hinter jedem Spalt war ein heller Fleck zu sehen, und nicht mehr die Spur eines Interferenzmusters. Mit Detektoren, also unter Beobachtung, verhielten sich die Photonen nicht mehr wie Wellen, sondern wie Teilchen.
Etwas später stellte man dann noch fest, dass es sich mit Elektronen, Protonen und sogar ganzen Atomen genauso verhält. Welle oder Teilchen war davon abhängig, ob man beobachtete oder nicht. Und was ist es denn nun: Welle oder Teilchen? Wohl ein Aspekt, der den Quantenphysiker Hans Peter Dürr zu der provokativen Aussage bringt: Materie gibt es nicht!
Wenn man davon ausgeht, dass die Strahlung der Detektoren die kleinsten Teilchen beeinflussen und die Aufmerksamkeit eines Lebewesen auch Strahlung ist – jeder hat sicher schon mal die Erfahrung gemacht, dass man es bemerkt, wenn man von hinten oder von der Seite, jedenfalls außerhalb des eigenen Blickfeldes, angesehen wird – dann heisst das im Grunde, dass schon ein gerichteter Geist, also Aufmerksamkeit, die Materie beeinflusst.

Meditationsübungen oder sich beim künstlerischen Arbeiten ergebende meditative Zustände: Sind diese geeignet um etwas über die unsichtbare Welt zu erfahren? Oder ist es sogar möglich tiefere und wahrere Einsichten mit der Beobachtung des Innen zu erlangen, als dies die milliardenteuren und das Subjekt ausklammernde Erkenntnisse aus den Teilchenbeschleunigern liefern? Eine Frage, die zunehmend ins Zentrum meiner Arbeit rückt.

Platon, nach dem die platonischen Körper benannt sind, hielt das Dreieck für den Grundbaustein des Universums. Und den Gedanken finde ich wert, weiterverfolgt zu werden. In dem Sinne, dass sich die kleinsten Einheiten der Materie, was auch immer sie nun sind – Welle, Teilchen oder eben beides gleichzeitig – Energiefelder, die sich vielleicht dreiecksförmig, aber permanent dynamisch verändernd, formieren und damit erst zu entsprechender Stabilität finden und zu dem werden, was wir Materie nennen?

Die spekulativen Anteile des bisher Gesagten und auch die durch Aufmerksamkeit und Konzentration aufgeladenen Materiehäufungen an der Wand und im Raum bitte ich mehr als Frage, denn als Feststellung, und bestenfalls als Ahnung zu sehen.

 

Henrik Hold, 2022

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